Weltuntergang

Wie jeden Morgen ging Andreas die Straße den Berg hinunter. Dem Panorama oder besser der Skyline von Quito schenkte er keinen Blick. Es war kühl geworden, die Regenzeit kündigte sich mit schweren Wolken an. Er nahm sein Halstuch, hielt es sich vor Mund und Nase, der Gestank der Busse an der Avenida America war unerträglich. Auf die Ampel achtete er schon lange nicht mehr, die Autos auf der achtspurigen Ausfallstrasse auch nicht. Lebend erreichte Andreas die andere Straßenseite, grüßte die beiden Quitchuas, die ihre Souveniers zum Verkauf aufbauten. Dem Pförtner hielt er seine ID entgegen, schlenderte über den Hof vorbei an den Palmen und dem Grab. Begraben war hier niemand. Die Gärtner hatten einen kleinen Hügel aufgeschüttet um die Initialen des Senders mit Blumen zu pflanzen. Seitdem witzelten alle, die Gründer seien hier... na, ja die letzte Stufe zur Redaktion nahm Andreas mit einem großen Schritt und stand vor verschlossener Tür. Einfach zu, keiner da. Das war ihm neu. Wenigstens die deutsche Abteilung war pünktlich, heute nicht. Das Gelände wirkte plötzlich merkwürdig leer. Drüben in der Journalistenschule war alles dunkel. Eiskalt fuhr es ihm den Rücken runter. Die anderen Zuhause hatte er auch nicht gesehen. "Nee, das kann nicht sein, entspann' dich. Und wenn doch? Nein, nein", sagte er zu sich selbst. Aber heute war Mittwoch, kein Zweifel. Den Pförtner hätte er fragen können, hätte er spanisch gesprochen, doch über "buenos dias" war er nicht weit hinausgekommen."Nein, das konnte jetzt nichts mit der Radio-Andacht von gestern zu tun haben. Das war sowieso Quatsch. Warum hatte er sich auch überreden lassen zu diesem frommen Sender zu gehen. Es war auch der einzige Sender der ihm überhaupt eine Chance gab. In Deutschland hatte er alles abgeklappert, vergeblich. Nun stand er hier auf der Treppe zur Redaktion und kämpfte mit seinen Gefühlen. Gestern hatte Andreas über den Weltuntergang gesprochen und davon, dass die guten Menschen vor der Katastrophe entrückt würden. Irgendwie Richtung Himmel. So ganz verstanden hatte er das selbst nicht, aber seine Kollegen fanden die Andacht für eine Radiosendung sehr gut. Und nun? Wo waren die alle? Hoffentlich im Bett. Es ist alles gut, du wirst sehen, redete er sich ein. Doch seine Gefühle sprachen eine andere Sprache. Fragen stürmten auf Andreas ein. Bin ich gut? Bin ich ein anständiger Mensch? Er versuchte die Gedanken zu verdrängen. Mochten sie es hier für Blasphemie halten, diese Sache mit Kirche und Gott war doch Quatsch. Wie oft hatte er sich in den Schlaf gelacht, bei dem Gedanken, dass irgendwer seine kurzen Andachten ernst nehmen würde. Wie angewurzelt stand Andreas immernoch auf der Treppe. Und was wenn doch? Ach, Blödsinn. "Senior, Senior!" hörte er den Pförtner rufen. "Senior, hoy fiesta! No functiona!" Andreas grinste plötzlich breit und klatschte sich mit der Hand auf die Stirn. Feiertag! Der Tag des heiligen Andreas.