Transit BRD (Teil 5)

Das kalte grelle Licht tauchte alles in eine unwirkliche Stimmmung am kurzen Ende der Sonnenallee kurz vor Mitternacht.  Doch nicht für uns zwei. Wir sahen nichts und spürten nur einander engumschlungen und küssend als könne uns nicht auf der Welt mehr trennen. „Isch möschte jo nisch unhöflich sein, aber falls jemand von ihnen noch nach Westberlin muß. Mior schließen den Übergang in fünf Minud'n!“ Die Realität hatte uns wieder. „Montag bin ich wieder da, morgen muß ich nach Duisburg, da ist so eine Vorlesung...“ „Nu' mach' hinne, sonst iss zu und dit jibt wirklich Ärjer!“ Ja, ich liebte Martina noch immer. Fortan gehörten die Wochenenden ihr. Unter der Woche war ich ja meist in Ostberlin. Ich trieb ein doppeltes doppeltes Spiel und war richtig gut darin. Dann, der Sommer neigte sich dem Ende zu, verschwand Martina in ihrem Kloster ... äh, auf dieser Bibelschule. Den Unterschied habe ich nie so ganz verstanden. Besuchszeit alle vier Wochen. Also mehr Zeit für Sabrina. Es wurde ein heißer Herbst. Meine Kopien waren inzwischen uninteressant. In der Tat hatte das MfS jetzt ganz andere Probleme. Die Leichtigkeit mit der wir noch vor Wochen durch Rheinsberg oder Sanssoussi schwebten war dahin.

Wie gewohnt kam ich an einem grauen Tag Anfang November in Sabrinas Wohnung an. „Ick muss zum Alex, obsavian! Die machen da 'ne Demo!“ „Ach das ist doch bei euch immer alles staatlich organisiert, lass uns zum Müggelsee fahren.“ „Nischt is orjanisiert, Künstla und Kirschen machen det. Nu strömen die Leute schon seit Stunden uff'n Alex.“ „Freie Wahlen statt falscher Zahlen“  „Rücktritt ist Fortschritt“  Demonstranten mit selbst gemalten Plakaten. Was für ein Anblick. Wie viele waren das? Keine Ahnung, jedenfalls viele. Versteckt Händchen haltend blieben wir am Rand. Es waren nicht mal VoPos zu sehen. Nur in den Nebenstraßen warteten Polizeifahrzeuge. Alles sah fast aus wie bei einer Demo im Westen. Reden von Leuten die heute noch viel versprechen, Wir-sind-das-Volk-Rufe und sonst blieb alles ruhig. „Wolln wa doch Müjjelsee?“ Wäre schöner, oder? „Na, komm lass uns abhaun, hiea looft nischt.“ Wir schlenderten zum Auto. Eine der Hundertschaften donnerte gerade die Stralauer Straße hinunter als Sabrina ihren Trabi aufschloss. Ein greller Schrei, quitschende Reifen, Soldaten sprangen vom LKW und stürzten sich auf Sabrina die wimmernd am Boden lag. Ihr linker Fuß sah merkwürdg abgespreißt aus. Ich drängte mich durch und drückte ihre Hand ganz fest. „Ambulanz, Charitee und Scheiße, ick hab se doch nich jesehn.“ - war alles was aus dem Gewirr um uns herum noch wahrnahm.

„Herr Correll? Also ihrer Freundin geht es den Umständen entsprechend gut. Der Zwillingsreifen des Lastwagen hat allerdings den linken Fuß fast ganz zerquetscht. Wir mußten ihn jedoch nicht amputieren. Er wird aber unbeweglich bleiben, fürchte ich. Wenn sie möchten können sie in einer Stunde zu ihr, dann lässt die Narkose nach.“ Ja, danke gerne. Man hätte ich bloß nicht von Müggelsee geredet. Eine weitere Stunde der Selbstvorwürfe folgte, dann war Sabrina benommen wach. „Sieehste, Unkraut vajeht nich!“ nuschelte sie. „Komm' ruh dich aus, ich bin morgen früh wieder hier.“ Von dem Schlag mußte ich erst mal erholen.  Ich nahm den Übergang Invalidenstraße und lief bis zur U-Bahn in Moabit. Kaputt fiel ich auf mein Hochbett, weinte und war sauer zugleich. Dingdong, dingdongdingdongdingdong. Wer klingelte denn jetzt hier Sturm. Der Türöffner summte, aber irgendein superordentlicher Nachbar hatte wieder preußisch pünktlich um acht abgeschlossen. Also runter. Langsam, noch etwas benommen öffnete ich die Haustür. Ihre Arme drückten mich ganz fest an sie. Ihre Lippen wollten so viel von meinen, ich befreite mich aus der Umklammerung. „Martina, was machst du denn hier?“ „Ich bin schwanger!“ Mir entglitten alle Gesichtszüge. „Freust du dich nicht? Wir werden eine Familie und ich zieh' jetzt zu dir!“ „Einmal nur, bevor ich gehe“ hatte Martina gebeten. Dabei wollte sie sich doch eigentlich bis zur Hochzeit aufheben. Jetzt trug sie das Ergebnis im Bauch. Nicht das ich mich nicht auf ein Kind freute, besonders eines von Martina. Aber ausgerechnet heute? Na ja, ich konnte sie jetzt auch nicht wegschicken. Erst mal schlafen, morgen sähe die Welt vielleicht anders aus.